© Neue Zürcher Zeitung; 09.08.2003; Nummer 182; Seite 43
Feuilleton (FEUILLETON)
Die Kunst des Sitzenbleibens
Das bemerkenswerte Prosadébut des Berners Guy Krneta

Dieses Buch ist laut zu lesen. Zumindest von vorne nach hinten. Was in diesem Fall wiederum von zwei Seiten her möglich ist: Vice versa streben der Originaltext und dessen Übersetzung aufeinander zu - hier die berndeutsche Mundart mit ihren Konsonantenballungen und Vokalverdoppelungen, dort die hochdeutsche Übersetzung mit ihrer sprachlichen Glättung zum Gewohnten hin.
«Zmittst im Gjätt uss» heisst das bemerkenswerte Début von Guy Krneta. Auf amüsante und abgründige Weise handelt es vom Fortkommen und Sitzenbleiben und bietet in einer Vielzahl von Geschichten eine Lesereise vor Ort. Denn von einer Reisegruppe ist die Rede, die am Flughafen sitzenbleibt. Beziehungsweise von einem Reiseleiter, der zwar viel zu erzählen hat, aber selber nie direkt zu Wort kommt. Was er auch alles zum Besten gibt: Die Lesenden erfahren es aus zweiter Hand, von einem Ich-Erzähler, der nichts anderes tut, als von den Geschichten des Reiseleiters zu berichten, der wiederum wortreich die Geschichten seiner Reisegruppen-Klientel rapportiert.
In Zirkeln und Kreisen, stammtischrund, entsteht so ein Panoptikum des Allzumenschlichen, heiter und abgründig, komisch bis grotesk. Da ist zum Beispiel die Geschichte des Lehrers, der nach der Pensionierung alle Schulreisen wiederholt. Oder die Episode des Vorlesers im Altersheim, der unwissentlich seine Zuhörer mit auf eine literarische Höllenfahrt nimmt. Oder vom Mann, der zum Busfahrer mit der erotischsten Stimme gewählt wird. Nahtlos reihen sich die Binnengeschichten aneinander und erzählen von netten, aufgeklärten Nachbarn, deren pedantische Korrektheit und durchpsychologisierte Menschenfreundlichkeit einen im Grunde zur Verzweiflung bringen müssten. Doch so unvermittelt der Erzählspuk eingesetzt hat, so abrupt endet der orchestrierte Redeschwall.
Angesichts der routinierten Stimmenverteilung und -intonierung überrascht es nicht, dass sich Guy Krneta, 1964 in Bern geboren, über eine Vielzahl von Theatertexten und eine mehrjährige Tätigkeit als Dramaturg an die Erzählprosa von «Zmittst im Gjätt uss» herangeschrieben hat. Ebenso ist die Sprachreise des Reiseleiters bereits in der gleichnamigen Theaterfassung auf Schweiz-Tour, bearbeitet von der Regisseurin Ursina Greuel.
Doch die Suada in Buchform verdient ungeteiltes Augenmerk, vorzugsweise in der berndeutschen Originalfassung. Wohl vermag die Dialektversion Ungeübte mit ihren Buchstabenhäufungen wie «Ggoschtümierig» zuweilen zu überrumpeln. Lautes Lesen fördert in einem den einfachen Wortsinn zutage und vergegenwärtigt die komplexe Mechanik der Spracherkennung: Bereits durch ein ungewohntes Assortiment von Buchstaben ist das Verständnis auszuhebeln. Die schaukelnde Syntax und die einlullende Melodik des Berndeutschen machen im Gegenzug sporadische Verwirrungen wett.
Guy Krnetas Mundartprosa ist fernab von «bluemetem Trögli» oder dialektalem Heimatmuseum. Vielmehr sind seine Figuren unbeirrt zeitgenössisch, und ihr Sprechen ist aufsässig zeitgemäss. So steht «Zmittst im Gjätt uss» jener populären und absatzstarken Dialektliteratur diametral entgegen, die mit Geschichten vom Backen, Waschen und Werken an die verlorene Schweizer Bodenhaftung erinnert. Vielmehr knüpft Guy Krneta an die Mundart-Tradition an, die sich bereits vor über 30 Jahren u. a. mit Kurt Marti, Ernst Eggimann oder Ernst Burren von der nostalgischen Besetzung der Umgangssprache losgesagt hat. Während sich das Recht auf dialektale Lakonie und Abgründigkeit in der Musik - meisterhaft eingeführt von Mani Matter - bis in die jüngste Generation bestens erhalten und erweitert hat, fehlten in der Literatur bis anhin die neuen Stimmen.
Dass nun gerade ein deutscher Verlag den Text von Guy Krneta herausgebracht und mit der Übersetzung von Uwe Dethier auch für die Leserschaft jenseits des «Gjätts» zugerüstet hat, mutet in der gegenwärtigen Buchmarktsituation, in der die Schweizer Literatur als nahezu inexistent gehandelt wird, fast ironisch an. Trendige Ironie ist sodann beim Buchumschlag mit im Spiel: Gezielt placierte Schweizerkreuze auf der Vorder- wie der Rückseite reizen die Exotik des nachbarschaftlichen Idioms aus. Unbeirrt davon ist die Brache der zeitgemässen Mundartliteratur von Guy Krneta dazwischen episoden- und variantenreich bearbeitet. Und treibt ihre liebevoll skurrilen bis erheiternd bösen Blüten.
Sibylle Birrer