© Die Wochenzeitung; 15.01.2004; Nummer 3; Seite 19
Der Bärengraben ist überall
Guy Krneta · Männer im Bierrausch geben gewöhnlich eine unsägliche Szenerie ab. Diesmal wird daraus fulminantes Theater und eine schriftstellerische Leistung.
Von Fredi Lerch

«Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken» - das ist der Titel von Guy Krnetas Stück, das den Welti-Preis 2003 erhalten hat und am Samstag im Schlachthaus Theater in Bern uraufgeführt worden ist. Ein süffiger Titel, der gleich mehrfach in die Irre führt. Erstens sieht man auf der Bühne zwei Männer, die in ihrem Leben zu viel vom Billigeren genommen haben, zweitens wird im Stück nicht hochdeutsch, sondern Berner, Zuger und St.-Galler-Oberland-Umgangssprache gesprochen, und drittens wird Bier getrunken.
Als Louis, SVP-Gemeinderat und Drogist in Hindelbank, in einer Berner Beiz bezahlen will, stellt er fest, dass sein Portemonnaie geklaut worden ist. Im gleichen Moment bemerkt er am Nebentisch einen Zuger SP-alt-Nationalrat. Louis setzt sich zu Geri, lässt sich einladen, geht mit ihm schliesslich in einen Club, wo die beiden bis morgens um vier weitertrinken. Abgesehen von einem Intermezzo mit dem Barkeeper Franz, besteht das Stück aus dem Gespräch der beiden alternden Männer.Gespräch? Nun ja. Die beiden tun auf geradezu verblüffend präzise Art das, was Männer tun, wenn sie beim Bier zu leiern beginnen: Sie reden vor sich hin und aneinander vorbei, sie geraten vom Hundertsten ins Tausendste und von der Schweiz als Misere zurück zur privaten, bis sie - ohne sich zu verstehen - über die Parteigrenzen hinweg bierselige Freunde sind und sich attestieren: «Die Angere / chönnte sech e Schyben abschnyde / gäu / a üs.»
Umgangssprachliche InnovationenGuy Krneta ist als Mitglied des letzten Gruppe-Olten-Vorstands, als Mitglied der kantonalbernischen Literaturkommission und als Leiter des Vorprojekts zu einem Schweizerischen Literaturinstitut ein (kultur)politisch versierter Kopf. Und er ist zurzeit vermutlich der Schriftsteller, der sich in der Deutschschweiz am innovativsten mit der hiesigen Umgangssprache auseinander setzt. Er stellt sich damit in die Tradition von Autoren wie Kurt Marti, Martin Frank oder Beat Sterchi.Die Spracharbeit an den schweizerdeutschen Dialekten ist undankbar, weil sie einen Sprachraum bedient, der zu klein ist, um als Literaturmarkt zu taugen, und weil sie mit bildungsbürgerlichen Vorurteilen behaftet ist. Trotzdem ist Emanzipation auf die Kraft der Unmittelbarkeit und Direktheit angewiesen, die nur in der Sprache steckt, in der man lebt. Emanzipativen Schwung erhält Umgangssprache zusätzlich, wenn sie sich, wie in Guy Krnetas Fall, selbstbewusst präsentiert: Er hat letztes Jahr seinen Prosatext «Zmittst im Gjätt uss» im Berliner Aufbau-Verlag herausgebracht, und zwar auf Berndeutsch mit einer hochdeutschen Übersetzung, die sich so ehrlich wie erfolglos bemüht, vergleichbar originell zu sein. Dass Krnetas Auseinandersetzung mit der Umgangssprache zunehmend auf Interesse stösst, hat Mitte Dezember zum Beispiel seine Lesung in der Berner Reitschule gezeigt: Es kamen gegen 250 Leute - trotz den fünfzehn Franken Eintritt.Krnetas hauptsächliches Arbeitsmaterial für das Theaterstück war Sprachmüll, der gerade deshalb so authentisch ideologieträchtig ist, weil er den Sprechenden in modisch-klischierten Wendungen dauernd halb bewusst unterläuft. Solches Material hat Krneta zu rhythmisierter Rede verdichtet, die er in freien Versen notiert hat. Einzig mit dieser Verdichtung verfremdet er die Umgangssprache so weit, dass der Sprechtext - er nennt ihn «Rhapsodie» - seinem Anspruch eines «nicht naturalistischen Umgangs mit der Sprache» gerecht wird.
In den SandsteinkatakombenNaturalistisch an der Inszenierung von Ursina Greuel ist denn auch vor allem eines: die achtzehn Stangen Bier, die zu Beginn auf dem Bord des Altstadt markierenden Kulissenfragments und am Schluss leer getrunken auf dem davor stehenden Beizentisch stehen. So sehr man die beiden Schauspieler für ihr höchst präzises und mitreissendes Spiel bewundert, so sehr staunt man, dass sie dazu innert gut fünf Viertel Stunden je neun Stangen zu kippen vermögen. Während Thomas U. Hostettler als Louis virtuos zwischen bauernschlauer Schlitzohrigkeit, dem Selbstmitleid eines zu kurz Gekommenen und fremdenfeindlichen Tiraden taumelt, kombiniert Herwig Ursin die alt-nationalrätliche Eitelkeit mit politisch korrekten Tränen, wenn ihm der Generalstreik in den Sinn kommt, und der Angst eines 58-Jährigen angesichts des blutroten Strahls, den er eben gepisst hat.
Allmählich wird die Szene diskret mit irritierenden Signalen aufgeladen: Zuerst hört man über Lautsprecher knurrende Bärenlaute. Dann knallt von der Decke ein Fotoapparat auf den Steinboden. Später folgen ein Regenschirm, eine Perücke, ein Teddybär - schliesslich ein aufplatzender Papiersack voller Karotten, mit denen sich Geri breit kauend bedient. Dass der Barkeeper (Markus Matthis) ein geschasster Tierpfleger aus dem Bärengraben ist, kommt dazu: Wie die Bären in ihren Sandsteinkatakomben sitzen auf der Bühne Eingesperrte in ihren versteinerten Verliererrollen.
Neben einem fulminanten Theaterabend erbringt das Stück übrigens den Beweis für eine alte Vermutung - nämlich, dass der Bärengraben nicht einfach eine Berner Touristenattraktion ist, sondern die Stadt Bern gleichsam selber der Bärengraben ist. Aber nicht zu früh gelacht: Krnetas Bärengraben ist überall (ab 18. Februar in Zürich).
Guy Krneta: «Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken». Schlachthaus Theater Bern. Do-Sa, 15.-17. Jan. Jeweils 20.30 Uhr. Fabriktheater Rote Fabrik Zürich. Do, Sa-Mo, 18., 20-22. Feb. Jeweils 20.00 Uhr