© Neue Zürcher Zeitung; 20.02.2004; Nummer 42; Seite 50
Zürcher Kultur (ZÜRCHER KULTUR)
Besäufnis unter Bären
Guy Krnetas träfe Mundart-Rhapsodie in Zürich

Meterlang stehen die Biergläser aneinander gereiht in diesem fiktiven Wirtshaus zum Ewigen Durst, 18 Stangen, eine helvetische Girlande. Sie wird von zwei Schauspielern mit Fassungsvermögen in siebzig Minuten ausgetrunken. Das sind nach Adam Hürlimann 7,6 min/G, sieben und eine halbe Minute Zeit pro Glas. Im Fabriktheater bleibt für den entsprechenden Szenenapplaus keine Zeit. Denn der Berner Autor Gay Krneta hat vier gleichwertige Hauptdarsteller auf eine Karte gesetzt: den Alkohol wie gesagt, den SVP-Gemeinderat Louis (Thomas U. Hostettler), den Ex-SP-Nationalrat Geri (Herwig Ursin) - und die Sprache. «Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken», ein Volksmund als Titel, zeigt, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Wobei gemäss Krneta am Ende (hier: einer durchzechten Nacht in Bundesbern) im Grunde (hier: des Bierglases) immer ein Rest zurückbleibt, der sich nicht wegtrinken oder wegreden lässt, gescheiterte Lebensentwürfe.
Das Interesse des Mundartautors liegt nicht bei Effekten, Krneta ist ein Meister der Form und der Sprachbehandlung. Sein neustes, bereits vor der Uraufführung mit dem Welti-Dramenpreis 2003 ausgezeichnetes Stück ist eine Sprach-Eruption, eine Mundart-Rhapsodie, die Text wie Musik behandelt. Rhythmen werden gesucht und gebrochen, kontrapunktisch aufgenommen und aufgelöst. Wenn der Kleingewerbler und SVP-Gemeinderat Louis die Lage seiner Drogerie in Hindelbank bejammert, klingt das so: «Sächs-, sibehunderttuusig Umsatz / im Jahr [. . .] / das muesch schaffe, Geri / z Hindubank / näbem Frouegfängnis / mit Nagulagg u Wattestääbli / da blybr dr nüüt / verschteihsch / nid ds Gringschte.» Die Dialoge scheinen aus dem lebendigen Volkskörper geschnitten und haben bisweilen die Qualität der grossen Klassiker in Bezug auf Pointiertheit und Prägnanz und das Schillern des Unterfutters, durch das eine Tiefendimension aufscheint, die sich nicht in Worte fassen lässt. Krneta schreibt Volksstücke in Horvath'scher Seelenlage und im Horvath'schen Sinn.
Die Stärke der Sprache verlangt nach einer Kraft der Inszenierung, Regisseurin Ursina Greuel hat das sehr wohl erkannt. Sie versetzt die beiden (Ex-)Politiker, die im Laufe der Nacht ihr persönliches Gescheitert-Sein erkennen, in die Situation der Tiere, die in Bern öffentlich gefangen gehalten werden: die Bären. Mit zunehmender Kadenz fallen vom Schnürboden auf die Köpfe der beiden die Devotionalien, die Bärengraben-Besucher den Tieren freiwillig oder unfreiwillig spenden - Haarteile, Autoschlüssel, Teddybären, Rüben . . . Der Regieeinfall ist eine Äusserlichkeit, deren es nicht bedarf. Denn der Entscheid, den Erkenntnisprozess der Figuren surreal zu illustrieren, ist auch ein Entscheid gegen die Sprache. Doch wer gegen Krneta antritt, muss mindestens Krneta heissen.

Daniele Muscionico