© Der Bund; 12.01.2004; Nummer 8; Seite 9
Kultur
Angst um das Wohl der Bären
Uraufführung von Guy Krnetas Mundart-Rhapsodie «Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken»

In seinem neusten Stück über den Sonderfall Schweiz gelingt dem Berner Autor Guy Krneta im Schlachthaus Theater ein faszinierender Balanceakt zwischen Alltags- und Kunstsprache.
Von Simone von Büren

SVP-Gemeinderat Louis Wilhelm aus Hindelbank und alt SP-Nationalrat Geri Moos aus Zug sitzen in einer Berner Beiz. Es ist schon spät. Louis ist das Portemonnaie aus der Jacke geklaut worden. Geri offeriert die nächste Runde. Dann verpasst Louis den letzten Zug . . . Im gemeinsamen Rausch folgt eine Annäherung über die Parteigrenzen hinweg bis in die frühen Morgenstunden.
Guy Krnetas mit dem Welti-Dramenpreis 2003 ausgezeichnete Stück «Das Leben ist viel zu kurz, um offene Weine zu trinken» (siehe auch «Bund» vom 8. Januar) erzählt ebenso von den gescheiterten Träumen zweier älterer Herren wie vom Verlust nationaler Werte und Mythen. Der Wechsel im Gespräch vom Tod der Frau zur Privatisierungswelle in der Politik ist in dieser clownesken Farce - wie so oft im Leben - fliessend.
Rhythmisiertes Sprachmaterial
Der Autor und Theatermann Guy Krneta und die Regisseurin Ursina Greuel, die im Rahmen der Matterhorn-Produktionen zusammenarbeiten, begreifen den nicht-naturalistischen Umgang mit Sprache als zentrale Aufgabe ihrer Theaterarbeit. In seinem neusten Stück gelingt Krneta ein faszinierender Balanceakt zwischen Alltags- und Kunstsprache: Das rhythmisierte Sprachmaterial, die scheinbar zufälligen Reime und sich wiederholenden Motive - das immer wieder mit hoher Stimme ungläubig gefragte «Du?» oder das gemeinsame «Äh!» beim Anblick des nächsten Biers - werden in Greuels Inszenierung fast zu Musik und erinnern doch jenseits aller Stilisiertheit an alltägliche Dialoge. Die Inszenierung zeichnet sich im Weiteren aus durch häufige, klare Rhythmuswechsel: vom peinlichen Schweigen zwischen den beiden Figuren über angeregte Dialoge bis zu den plötzlichen verzweifelten, passionierten oder wütenden Ausbrüchen in einem Monolog. Den im Text angelegten Humor ergänzt die Regie subtil mit skurrilen Einfällen und witzigen Details. Die Altersdiskrepanz zwischen den Figuren und ihren deutlich jüngeren Darstellern verstärkt das Typisierte und Clowneske der Aufführung zusätzlich.
Tränen wegen des Landesstreiks
Thomas U. Hostettler verleiht dem verwitweten SVP-Gemeinderat und Drogisten aus Hindelbank eine Angespanntheit, die sich unvermittelt und scheinbar ohne Auslöser in aggressiven Wutausbrüchen und aufgebrachten Plädoyers für eine totale Schliessung der Grenzen entlädt und gegen Schluss einer erschöpften Melancholie weicht. Herwig Ursin, Sozi mit dunkelrotem Samt-Jackett, wirkt gelassener, driftet zwischendurch ins Philosophieren ab, betont die generationenübergreifende SP-Tradition in seiner Familie und bricht beim Gedanken an den Generalstreik in Tränen aus.
Catharina Strebels schlichte Ausstattung - ein Holztisch, zwei Stühle, eine Reihe voller Biergläser vor einer grauen Kassettenwand - lässt die kargen Sandsteinwände der Schlachthaus-Bühne hervortreten. Zusammen mit zwei abgewetzten Baumstämmen und den in regelmässigen Abständen eingespielten und das Gespräch unterbrechenden Bärenlauten wecken jene Assoziationen mit dem Bärengraben.
Das Motiv des Bärengrabens wird im Verlauf der Aufführung zunehmend expliziter. Diverse aus dem Dachgebälk fallende Objekte - Kamera, Handschuhe, Sonnenbrille - sowie Toneinspielungen von Kindern und Touristen lassen die beiden Herren immer öfter beunruhigt nach oben schielen. Eindeutig wird die Parallele mit den Rüebli, die der SP-Mann prompt mit der unverwechselbaren kreisenden Nasenbewegung und gedankenverlorenen Langeweile der Bären zu kauen beginnt.
Am Ende bringt der Kellner mit Manta-Fahrer-Fuchsschwanz (Markus Mathis) den Bärengraben denn auch zur Sprache: Der Bärenwärter verlor seine Stelle, als der ehemalige Direktor des Frankfurter Zoos die Leitung des Bärengrabens übernahm. Seine Angst um das Wohl der Bären widerspiegelt die Sorge um den Zustand der Schweiz, welche die beiden Politiker einen Abend lang verbunden hat und die auch dem begeistert applaudierenden Publikum nicht ganz fremd ist.
[i] Weitere Vorstellungen 13. bis 17. Januar im Schlachthaus Theater, jeweils 20.30 Uhr. Am 13. Januar findet nach der Vorstellung eine Diskussion über Politik im Theater und das Theater in der Politik mit Simonetta Sommaruga und Ursula Haller statt. Moderation: Dani Landolf und Christian Pauli («Bund»).
Den SVP-Gemeinderat (Thomas U. Hostettler, links) machen die 18 Stangen Bier aggressiv, den Sozi (Herwig Ursin) bringen sie zum Weinen