© Der Bund; 05.11.2009; Seite 37
Berner Woche

Bühne

«Stottern und Poltern»


Das Weichtier, das über die Worte wacht

Laute, die nur widerwillig aus dem Mund kommen oder überhaupt nicht. Das ist der Stoff, aus dem Matterhorn Produktionen ein Sprechkonzert machen.

Regula Fuchs

«Es gab eine Zeit in meinem Leben, zu der ich nie eine Wohnung genommen hätte in der Pruntruterstrasse. Eine Wohnung in der Pruntruterstrasse hätte ich nicht gewollt. Nicht geschenkt», sagt einer im Stück. Nicht, dass er etwas gegen das Quartier oder die Strasse gehabt hätte. Nein, es war das Wort «Pruntruterstrasse», das zu jenen gehörte, die partout nicht aus seinem Mund herauskommen wollten, das darin feststeckte, als hätte es kleine Widerhaken.

Worte, die aus dem Kopf strömen, dann aber im Mund einen Sitzstreik machen, um aufs Mal wie ein Trommelwirbel im Stakkato hervorzubrechen – das ist der Stoff, aus dem das neue Stück «Stottern und Poltern» von Matterhorn Produktionen gebaut ist. Die Gruppe um Regisseurin Ursina Greuel hat in den letzten Jahren die Sprache konsequent zu ihrem Thema gemacht, sie als Klang begriffen, als Rhythmus und musikalisches Element. «Nach Addis Abeba» war ein Rendez-vous mit der Konkreten Poesie, die «Fondue-Oper» ein durchkomponiertes Stück Sprachmusik. «Nun sind wir einen Schritt weitergegangen, indem wir die Sprache zerstückelten. So sind wir auf das Thema Sprachstörung gestossen», erklärt Ursina Greuel.

Sprache mit Takt

Guy Krneta hat für «Stottern und Poltern» den Text geschrieben, Christian Zehnder die Musik. Wobei der Autor seine Sprache schon immer stark rhythmisiert hat. Und der Musiker Kompositionen aus wortähnlichen Lauten schafft. Die Schnittmenge davon, das ist nun «Stottern und Poltern», ein Sprechkonzert für zwei Schauspieler und zwei Musiker.

Auch wenn die Sprachstörung im Stück stark abstrahiert wird – dass inhaltlich alles stimmt, war der Gruppe wichtig. Deshalb hat man ausgiebig recherchiert. Zwei Logopädinnen fütterten die Theaterleute mit Informationen: darüber, dass man im Grunde nicht genau weiss, woher die Störung kommt. Darüber, dass sie vermutlich nicht heilbar ist, aber kontrollierbar. Und darüber, wie Betroffene damit umgehen. «Wir stellten fest, dass unser Wissen über das Stottern fast nur aus Klischees bestand», sagt Greuel. «Das, was wir als Stottern wahrnehmen, ist oft gar nicht das Stottern an sich, sondern das, was die Betroffenen tun, um es zu vermeiden.» Sie habe auf Videos der Logopädinnen Kinder gesehen, die den Kopf nach hinten warfen oder herumstampften – Mittel, damit die Wörter endlich aus dem Mund kommen.

Ein Synonym muss her

Die Betroffenen entwickeln unterschiedliche Strategien, um den Sprachstau zu bewältigen. Manche suchen, wenn sie merken, dass ein heikles Wort kommt, blitzschnell nach Synonymen. Dabei fällt den Gesprächspartnern höchstens auf, dass sie abschweifen oder etwas umständlich formulieren. Andere Stotterer dagegen wählen das Schweigen, wenn keine Therapie fruchtet. Wie anstrengend eine Logopädie-Lektion sein kann, erfuhren die Ensemblemitglieder während der Recherche am eigenen Leib: «Wir machten Übungen, in denen man etwa den Glottisschlag vermeiden musste, da dieser oft zu Stockungen führt. Das war für uns genauso schwierig wie für Menschen mit Sprachstörungen. Denn der Vorgang des Sprechens ist ja hochkomplex und geschieht unbewusst. Da reicht schon eine kleine neurologische Störung aus, um das Ganze aus dem Lot zu bringen», erklärt Ursina Greuel. Guy Krneta hat in seinem Text das Bild vom Weichtier im Mund verwendet, das in seiner Höhle über die Laute wacht – und nur schwer zu bändigen ist.

Die Silben zum Tanzen bringen

Telefonieren, ein Bewerbungsgespräch, jemand, der auf der Strasse eine schnelle Auskunft möchte – der Alltag eines Stotterers ist ein Hürdenlauf. Und doch haben Ursina Greuel und ihr Team bewusst darauf verzichtet, in ihrem Stück ganze Schicksale zu zeichnen, Figuren mit einer Geschichte, die etwas Allgemeingültiges haben. «Das wäre banalisierend gewesen. Wir wollten auch nicht Betroffene selber auf die Bühne stellen und sagen, hey, Stottern ist cool. Denn das ist es nicht», so Greuel. «Uns war das Stottern formal wichtig. Wir begreifen gewisse Merkmale dieser Sprachstörung als Qualität, als Elemente, die wir musikalisch zum Einsatz bringen.» So, dass die zerstückelten Wörter im Rhythmus hüpfen und tanzen – und zu Musik werden.

Kommt das Wort? Oder steckt es fest? Szene aus dem Sprechkonzert «Stottern und Poltern».