© Basellandschaftliche Zeitung / MLZ; 03.10.2009; Seite 33
Kultur bz
Stottern als musikalische Chance
«Stottern und poltern», die neue Matterhorn-Produktion von Guy Krneta und Christian Zehnder in der Kaserne, wird immer besser, je weiter sie sich von ihrem Recherche-Material entfernt und es zersetzt.
Verena Stössinger

Für David ist es ein dunkler Block, der eine Treppe hinunter muss und dabei von Stufe zu Stufe rumpelt. Für Arvin ein Salamander mit Hut, der ihm im Mund herumhüpft. Für andere Kinder ein Teufel mit hohen spitzen Ohren, ein «Vieh auf der Zunge», das Wörter zerhackt, ein geschlossenes Tor im Hals, ein schwarzes «Loch vor dem Kopf» oder eine Maschine, die die Wörter einsaugt und zu Staub zermahlt, bevor sie ausgesprochen werden können.

Stotter-Kinder finden beklemmende Bilder, wenn sie zeichnen, wie ihr Stottern aussieht. Ihre Zeichnungen hängen vor dem Eingang zur Reithalle, wo die neue Matterhorn-Produktion uraufgeführt wurde. Auf der schwarz ausgeschlagenen nüchternen Bühne finden sich einige davon auch als Projektion wieder › doch das, was sie an Angst und Not zu fassen versuchen, wird zur Dekoration. Den Matterhorn-Leuten geht es bei der Erkundung des Phänomens nämlich um etwas anderes.

Der Autor Guy Krneta, unter anderem Mitglied von «Bern ist überall», ist bekannt für seine musikalisch philosophischen Sprach-Schleifen, und der Musiker Christian Zehnder, berühmt vor allem aus der «Stimmhorn»-Zusammenarbeit mit Balthasar Streiff, erforscht seit längerem sängerische Grenz-Regionen.
Zusammen mit Regisseurin Ursina Greuel, zwei Musikern (der fulminanten Perkussionistin Margrit Rieben und Michael Pfeuti am Cello) und den Schauspielern Krishan Krone und Franziska von Fischer haben sie während der Proben zum neuen Projekt zwar ausgiebig gemeinsam über das Stottern recherchiert und sich von Fachleuten beraten lassen › ihr Interesse jedoch gilt weniger gruppendynamischen, psychologischen oder physischen Ursachen, Formen und Folgen des Stotterns als vielmehr der «musikalischen Chance» dieser Sprech-Störung.

Und das ist (bei diesem Team) natürlich gut so, weil wunderbar ergiebig; am liebsten schenkte man ihnen auch noch die wenigen, frontal dozierenden Passagen, die Früher-Jetzt-Geschichten und gelegentliche Betroffenheitsmimik (und liesse auch die Projektion der Kinderzeichnungen auf der Bühne gerne weg). Denn das, was diese Aufführung › die sich ja «Sprechkonzert» nennt › in ihren besten Stücken herzustellen vermag, ist tatsächlich die grandios musikalische, befremdlich mitreissende Montage von Wörtern und Silben zu blossen Rhythmen und Klängen.

Souveräne Sprach-Musik und musikalisches Sprechen sowie die Interaktion von Klang und Text bzw. Spiel, wenn das Schlagzeug etwa die wenigen Pausen bestimmt, in denen Sprechen überhaupt hörbar wird. Das Verfremden des Sprechens, das Unterlaufen des kommunikativen Potentials › beim rhythmisierten Kunst-Stottern etwa, oder beim Spiel mit dem selbsttätig Laute produzierenden Lautsprecher, den Krishan Krone zu beruhigen versucht wie ein eigensinniges Kind. Und manchmal ist auch nur noch Klang auf der Bühne, ein lallend behauptender Silbengesang, schön (unmarthalerisch) dissonant und unglaublich präzise, und manchmal schraubt sich der gesprochene Text in eine der Krneta’schen sprachphilosophischen Untiefen, ernst und komisch zugleich: in der Rede von den Wörtern, die ihre richtige Grösse erst noch finden müssen, oder der über die Zunge, die gegessen werden kann. Die Rindszunge. Wächst sie dem Tier wieder nach? Und kann man Menschenzungen auch essen? Die eigene vielleicht sogar, dieses «Tier ohne Pelz und Federn»? Und hat sie nachher doch wieder, weil man sie braucht; für Wörter wie «Pruntruterstrasse» etwa. Oder zum Witze-Erzählen.

Ein Abend zum Staunen und Geniessen. Und falls Stotterer, wenn sie ihn sehen, dadurch etwas selbstbewusster werden sollten, umso schöner.