Das Gefühl alles zu verpassen

Luzern, 20.02. Im Kleintheater feierte das neuste Stück der Matterhorn Produktionen «Single des Tages» am Mittwoch unter der Regie von Ursina Greuel Premiere. Der Autor Guy Krneta spinnt darin eine tragisch-komische Geschichte um zwei junge Frauen, die an nur selten verbalisierte Abgründe und Einöden einer modernen Gratiszeitungsgesellschaft andockt.

Von Katharina Wolf

Mitten in der für das Kleintheater ungewöhnlichen Sitzanordnung – die Stuhlreihen sind für einmal einer viereckig angelegten Tafelrunde gewichen – trinken zwei Mittzwanziger Resten aus Weingläsern und nennen sich gegenseitig Maus und Mäuschen. Es sind die Resten, die eine grosse Gesellschaft, die Trauergemeinde eines gewissen verstorbenen Walter von Rüttemann hinterlassen hat. Eva, alias «Mäuschen» hatte jenen betagten reichen Herren mit eindeutigen Absichten geheiratet: «Kehlchopfchräbs im Endstadium. Ha doch nöd gwüsst, dass das zweiehalb Johr dured. Mini beschte zweiehalb Johr vo mim junge Läbe hätt er mir gstohle.» Der Abend der Beerdigung soll deshalb für Maus und Mäuschen kein Anlass zur Trauer sein, schliesslich ist Eva zum ersten Mal im Leben Witwe und das will gefeiert sein, so die Devise. Doch genauso unmöglich wie die Empfindung von Trauer den beiden ist, gestaltet es sich auch mit einer fröhlichen Feststimmung. Die ernüchternde Erkenntnis zeigt sich immer deutlicher: Mit dem Leeren von Alkoholflaschen lässt sich das innere Loch auch nicht stopfen.

Maus und Mäuschen sind jung, wollen etwas erleben, etwas fühlen. Das Leben sollte doch für sie noch voller Träume und Hoffnungen stecken. Aber da sitzen sie in einer Welt der Teilnahmslosigkeit, sie selbst miteingebunden und erfahren weder an ihrer Umgebung, noch an sich selbst die gesuchte Intensität von Emotionen. Stattdessen sehen sie sich mit einem steten Prozess der Verblassung einer ohnehin schon kulissenartigen, unpersönlichen Umwelt konfrontiert.

Guy Krneta schreibt in seinen Tagebuchnotizen zum Stück nicht zufällig über die unwirklich anmutenden Schlagzeilen des Grauens oder des Absurden in den Gratiszeitungen und über die Distanz eines jeden Lesers dazu: «Was passiert in der einundzwanzigsten Minute? Wenn wir die Zeitung weglegen und realisieren, dass wir von Mördern und Models umgeben sind, die neben uns im Tram sitzend ihrerseits die Zeitung weggelegt haben, um mit ihren heutigen Taten die Zeitung von morgen zu füllen.» Maus und Mäuschen befinden sich quasi während des ganzen Stückes in jener metaphorischen Verdichtung der 21. Minute, einem emotionalen Nichts oder mit den Worten des Autors in der «Nicht-Empfindung». Der Plot des Theaters, also alles was Maus und Mäuschen selbst antreiben oder ihnen widerfährt, ist Resultat eines verbissenen und immer unerfüllt gebliebenen Dranges nach innerer Regung, nach Spüren. «Mir sind die, wo alles verpasst händ», lautet die Erkenntnis schon zu Beginn. Der Gewinn eines grossen Erbes samt Villa erweist sich als vermeintlicher, wenn der verschollene Sohn des Verstorbenen, Toni von Rüttemanns plötzlich auf der Beerdigung auftaucht, seinen Erbanspruch einfordert und Maus und Mäuschen auch noch als «huere Nutte und Komplizin» bezichtigt. Für das Publikum ein Anlass zu zynischem Gelächter bietend, entblösst sich Mäuschen da bereits in ihrer ganzen Armseligkeit, wenn sie klagt: «Mir händ grad so ne schöni Stimmig gha, dä hätt üs alles versaut. Jetzt müemer wider vo vorne afa mit dere Stimmig!» Doch das Festhalten am Vorhaben, aus diesem Abend etwas zu machen, etwas «Echtes» zu erleben – schliesslich ist Mäuschen nicht nur frischgebackene Witwe, sondern auch noch «Single des Tages» in einem bekannten Gratisblatt – führt durch eine Odysee von Stories à la Blick am Abend ohne dabei wirklich etwas zu spüren.

Als die jungen Frauen auf ihrer nächtlichen Trinktour beinahe einem Pseudomodefotographen und Frauenmörder in die Finger geraten und dessen Mutter später von Rottweilern zerfleischt, tot auffinden, äussert Mäuschen bloss kalt ihre eigene Gefühllosigkeit: «Sterbe isch so huere gwöhndlech, wie Fernseh abstelle.» Während die Suche nach Unmittelbarkeit, nach «Echtem» Erleben über die Handlung hinweg mehr und mehr im Sande verläuft, wird die Sprache der Figuren immer grober und vulgärer. Anstatt eine Brücke zu anderen Menschen zu schlagen, macht sich das Gefühl des Abgeschottet-Seins breit. Die Lücke zwischen Mensch und Mensch in einer Welt von gleichgültigen Schlagzeilenlesern schiebt sich schlussendlich auch zwischen Maus und Mäuschen. Selbst die besten Freundinnen gehen gewaltsam aufeinander los.

Der dramatische Höhepunkt entleert sich schliesslich am Ende des Bühnenstücks in einer schonungslos brutalen und beeindruckend umgesetzten Rede, in der Newa Grawit in der Rolle des Mäuschens Toni anfleht, ihr Schmerzen zuzufügen, um endlich etwas zu spüren. Denn die lakonische Erkenntnis vom Anfang hat nicht an Gewicht eingebüsst, das Gefühl alles verpasst zu haben, nichts zu empfinden, lässt sich nicht abtöten: «Mir sind de Reschte vo de Party, die wo übrig blibed.» Einziger Silberfaden als Gegenpol zu dieser Trostlosigkeit bietet der Text in Pema Shitsetsangs jazzigem Gesang, welche neben ihrer Rolle als Maus auch immer wieder stimmlich zu Kontrabassklängen von Hagen Neye verzaubert: «You can never lose a thing if it belongs to you.»

Nächste Aufführung: SA 23.2., 20 Uhr, Kleintheater Luzern