© Basler Zeitung; 12.05.2012; Seite bazab47
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kultur
Die Unendlichkeit und ein paar Zahlen
Mit «Ursle» und «Mannigfalte» zeigen Matterhorn Produktionen gleich zwei Stücke in Basel
Von Nadine A. Brügger
Ursle ist sechs und schaut mit gemischten Gefühlen zu ihrem grossen Bruder auf. Weit hinauf, denn Urs ist im Himmel. Aus dem zehnten Stock ist er gestürzt, dabei war er erst drei. Ein Engel sei er gewesen mit seinen blonden Locken, das sagt die Mutter, und aufgeräumt habe er immer. Aber Engel gehören in den Himmel. Zum Glück will Ursle gar kein Engel sein, und in den Himmel will sie erst recht nicht. Und manchmal mag sie auch nicht aufräumen, und Gemüse, das schmeckte nur Urs. Und immer, wenns gerade am schönsten ist, denken alle an Urs. Immer an Urs, nie an Ursle. Dabei ist sie schon sechs, und Urs wurde nur drei! Wie wäre es wohl, wenn Ursle auch zum Fenster rausfliegen würde? Hätte sie dann den grösseren Grabstein als Urs?
Das preisgekrönte Mundartstück des Berner Autors und Dramaturgen Guy Krneta trippelt leichtfüssig um ein schweres Thema: Zögernd sucht Ursle zwischen den elterlichen Erinnerungen an den ihr unbekannten Bruder ihren eigenen Platz. Die Zürcherin Franziska von Fischer gibt eine wunderbar patzige Ursle. Es bleibt nichts anderes, als dem kindlichen Charme der Erwachsenen zu verfallen.
Intensivierte Inszenierung
Zusammen mit dem Ensemble Kreis 13 verwandelt von Fischer die Bühne des Vorstadttheaters in Ursles kleine Welt. Mit ihrer grünen Spritzkanne im Schlepptau – die Blumen auf dem Grab von Urs sind richtige «Süüfferli» – wandert sie zwischen Notenständer und Musikern, Flöte und Bass umher und füllt die schlichte Bühne mit grosser Präsenz. Was Regisseurin Ursina Greuel hier inszeniert hat, ist ein Kleinod für Kinder und Erwachsene.
Matterhorn Produktionen sind die Regisseurin Ursina Greuel, der Autor Guy Krneta und der Lichttechniker Jens Seiler. Seit 2001 unterhalten Matterhorn Produktionen regelmässig mit ihrem Ensemble aus begeisterungsfähigen Darstellern wie Franziska von Fischer und Krishan Krone. Die Formation macht aus, dass sie Musik einbindet: Instrumente, Sprache und rhythmische Bewegungen intensivieren die Inszenierungen. Geschichte, Schauspieler, Musik – mehr als diese Dreifaltigkeit braucht es nicht.
Enthusiastisches Wegschauen
Gleichzeitig mit «Ursle» geht in Basel ein weiteres Stück der Matterhorn Produktionen über die Bühne. «Mannigfalte. Ein algebraisches Variété» ist Name und Programm: «Ursle»-Darstellerin von Fischer schlägt sich mit ihren Mit(schau)spielern Zahlen um die Ohren, sucht nach Eulers Charakteristik, oder zumindest einer Erklärung, und lauscht Zitaten aus den Lautsprechern wie diesem: «Mathematik ist Wegschauen. Teile herausgreifen. Gemeinsamkeiten suchen.» Dabei greifen die Darsteller öfters fehl und praktizieren das Wegschauen in der Mathematik mit besonders beherztem Enthusiasmus.
Das Stück basiert auf Ursina Greuels Interviews mit vier Mathematikprofessoren. Tanzend, singend und sprechend werden Zitate daraus von den Darstellern zu einem Ganzen aufsummiert. Wie bei «Ursle» arbeitet Greuel auch hier mit Musik und minimaler Bühnendekoration. Fünf Wandtafeln hängen im angedeuteten Quader, ein Piano schneidet die Gerade, und sechs Schauspieler überzeugen mit ihrer Leistung.
«Mannigfalte» ist die gelungene Auseinandersetzung mit einem Thema, das durchaus eingefleischte Feinde vorzuweisen hat. Spätestens wenn die Kreide in kurzen, punktierten Abständen über die Tafel kratzt, zieht mathematisch Geschädigten die Erinnerung an verhasste Rechenstunden durch den Kopf. «Es ist erstaunlich, dass wir nicht alle Mathematiker sind», verkündet einer der interviewten Mathematikprofessoren aus dem Lautsprecher. Nein, eigentlich nicht.
Ursle. Eine musikalische Geschichte für Kinder. Vorstadttheater, Basel: 13.5., 11 Uhr. Hörbuch: «Ursel» mit dem Text von Guy Krneta und Musik von Till Löffler. Hochdeutsch. Ab 8 Jahren. Christoph Merian Verlag, Basel 2012. 45 Min., ca. Fr. 20.–.
Die Mannigfalte. Ein algebraisches Variété. Kaserne, Basel: 13.5., 19 Uhr, 15. und 16.5., 20 Uhr.
www.matterhorn.li