Gare du Nord · Matterhorn Produktionen schafft mit «Kurz vor der Erlösung» heitere Nachdenklichkeit
Alfred ZiltenerWeihnachtsgeläut durchzieht «Kurz vor der Erlösung», den Erstling des Berner Autors Michael Fehr. Die Gruppe «Matterhorn Produktionen» um die Basler Regisseurin Ursina Greuel hat den Text nun auf die Bühne gebracht hat. Premiere war im Theater Chur; vom 9. bis zum 13. Dezember ist die Produktion in der Basler Gare du Nord zu sehen.
Es sind die Glocken der Kathedrale in der Hauptstadt, die in 17 Geschichten Menschen an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Zeiten erreichen. Der Jäger auf seinem einsamen Hochsitz, der Müller am Steuer seines klapprigen Lieferwagens, die Familie bei der verkrampften Weihnachtsfeier, der Männerchor am Stammtisch der versifften Dorfbeiz, der Soldat, der seinen Tod als Befreiung erlebt – sie alle werden von den Klängen verändert und für einen Moment über sich selbst hinaus gehoben, «melodieren und modulieren» ein «Alleluja».
Sie stehen kurz vor einer Erlösung, die aber nicht eng christlich gedacht ist. Ob sie letztlich eintritt, bleibt offen, doch das Buch hält die Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben aufrecht. Auch die Figuren der Weihnachtsgeschichte treten auf: Einer der Könige reitet durch die Wüste; ein misstrauischer Bauer findet im Stall zwei Fremde: Josef und Maria, die in den Wehen liegt. Das könnte betulich sein, doch Fehrs sanfte Ironie, die in der Schilderung einer TV-Weihnachtsshow zu derbem Spott wird, hält den Text in der Schwebe. «Satz» hat Fehr jeweils die Geschichten überschrieben. Das ist wörtlich zu nehmen, denn jede besteht aus einem einzigen Satz mit zahlreichen Nebensätzen und Neben-Nebensätzen, Einschüben und Einschüben in Einschüben.
Das erschwert die Lektüre und Fehrs Sprache macht sie auch nicht einfacher. Sie ist extrem künstlich, stellenweise ärgerlich manieriert, wenn etwa von «lumièrem Licht» die Rede ist. Es wimmelt von teilweise archaischen Dialektwörtern, die in Zusätzen erklärt werden müssen. Andererseits dienen diese Präzisierungen auch der sprachlichen Genauigkeit. Manchmal ist es, als müsste sich Fehr, ein genauer Beobachter, durch eine Reihe von Synonymen tasten, um das treffendste zu finden, manchmal umreissen die Wortkaskaden einen nicht eindeutig zu fassenden Bedeutungshorizont. «Satz» verweist aber auch auf die Sätze einer Sonate oder Sinfonie.
Das Buch ist denn auch musikalisch strukturiert; zahlreiche sprachliche Leitmotive verbinden die inhaltlich verwandten Geschichten auch formal. Ursina Greuel, die mit «Matterhorn» schon oft im Zwischenbereich von Sprache und Musik gearbeitet hat, inszeniert das leicht gekürzte Buch als «Sprechoratorium» – und wie durch ein Wunder wird der sperrige Text plötzlich einfach und leicht.
Mit Franziska von Fischer, Fabienne Hadorn, Krishan Krone, Markus Mathis und Michael Wolf hat sie ein ausgewogenes, hervorragend sprechendes Ensemble. Sie geben der Sprache Zeit, gliedern Fehrs komplexe Sätze sorgfältig, wenn nötig, mit langen Pausen, und machen ihre Musikalität und ihren feinen Witz hörbar. Sie alle schlüpfen in unterschiedliche Figuren, unterstützt von Bettina Ginsbergs einfachen, leicht zu wechselnden Kostümen. Ginsberg hat auch die Bühne entworfen, mit einem groben Holztisch und passenden Stühlen sowie einer Treppenkonstruktion, die mal als Hochsitz, mal als Kanzel dient.
Mit Klangschalen und Glocken unterschiedlicher Grösse imitieren die Spieler und der Musiker Gustavo Nanez das erst aus der Ferne, später in nächster Nähe zu hörende Geläut der Kathedrale. Am Ende jeder Geschichte intoniert das Ensemble lupenrein ein mehrstimmiges A capella-Alleluja, nach der Beizen-Szene sogar eine stimmig interpretierte Jodel-Version. Schliesslich wird im Stall das Kind geboren und der Bauer lässt weinend den Karabiner sinken, mit dem er die Fremden vertreiben wollte, während in der Kathedrale dem Pastor vor der Predigt die Sprache versagt. Am Ende wird im Stall das Kind geboren und der Bauer lässt weinend den Karabiner sinken.