Im Theater Chur ist Michael Fehrs Sprechoratorium «Kurz vor der Erlösung» uraufgeführt worden. Und siehe da: Auf der Bühne wirkt seine Sprache noch unmittelbarer denn als Lesetext.
Carsten MichelsSprache ist ein seltsames Ding. Wir benutzen sie täglich und meinen, sie zu beherrschen. Dabei beherrscht sie eher uns. Wir sagen «Verständigung» oder «Verstehen» und denken, wir stünden auf sicherem Grund. Tatsächlich aber versinken wir allzu oft im Treibsand des Gemeinten und stossen höchstens auf Granit, der Bedeutung nur vortäuscht. Einer jedoch, der im Bergwerk der Sprache schürft, sie unermüdlich mit Hammer und Meissel abklopft auf der Suche nach schillernder Semantik und funkelnden Worten, ist Michael Fehr. Ein ungewöhnlicher Autor – amüsant und todernst zugleich.
Für seinen literarischen Erstling «Kurz vor der Erlösung» erhielt Fehr 2013 den Literaturpreis seines Heimatkantons Bern. Am Donnerstag nun kam das Werk auf die Bühne des Theaters Chur – notabene als Uraufführung.
Zwölf Kerle in der BeizUnd darum gehts in «Kurz vor der Erlösung»: Winternacht, es schneit. Ein Bauer hört verdächtige Geräusche im Stall und entdeckt ein junges Paar, die Frau ist gerade niedergekommen. Zur gleichen Zeit: ein Waidmann auf dem Hochsitz, fröstelt, lauert, träumt vom Jagdglück. Zur gleichen Zeit: ein Fischer am Fluss, mehr Säufer als Angler. Und, ja, zur gleichen Zeit liefert ein Müller sein Mehl aus; hockt ein Soldat im Kugelhagel und stirbt; giessen sich in der Beiz zwölf Kerle am Stammtisch einen hinter die Binde; läuft eine Fernsehshow, übt der Dorfchor, predigt der Pfarrer. Ach, richtig, und ein seltsames Dreikönigspaar lustwandelt durch die Wüstenei.
Regisseurin Ursina Greuel hat Fehrs Text (der siebzehn Sätze ohne Punkt und Komma umfasst) auf eine fünfköpfige Schauspieltruppe verteilt und lässt das Quintett durch die gar nicht mal so stille Nacht stolpern, schreiten, stottern, schleichen, psalmodieren, fliehen und irren. Einziges Vehikel dabei: Fehrs Sprache, die vor absonderlichen Wörtern nur so strotzt. Da lützelts und lotterts in einem Fort, da schnürfelts und trieschagts, dass es nur so chlöpft.
Das Ganze: eine hochtheatraler heiliger Abend, der sich wie ein umgekehrter Mahlstrom praktisch aus dem Nichts erhebt und scheinbar alltägliche Episoden schicksalhaft ineinanderwirbelt. Ein kleines Bühnenwunder kurz vorm ersten Advent: Fehrs literarische Vorlage entfaltet erst gesprochen ihre ganze atemberaubende Wirkung.
Ein Chor von KönnernWesentlichen Anteil am Gelingen dieses Mirakels hat das Schauspielensemble: Krishan Krone als Bauer, Franziska Fischer als Chirurgin und Gebärende, Fabienne Hadorn als Fernsehmoderatorin, Markus Ma-this als Dreikönig, Michael Wolf als Pfarrer – und sie alle als Chor, Apostelrunde in der Beiz, als Heilsarmee- und Blasorchester, als Swinging Four in grosser TV-Unterhaltungsshow. Die Präzision, mit der das Quintett (ergänzt um den Musiker Gustavo Nanez) Fehrs Text und die Ereignisse dieser Nacht zelebriert, liess dem Premierenpublikum mehr als einmal den Atem stocken. Erschütternd, wie Fabienne Hadorn als sterbender Soldat die Kriegsgräuel in Nahost heraufbeschwört. Trotzdem auch ein schreiend komischer Abend – Fehrs taumelndem Sprachseilakt sei Dank. Kleine Besetzung, aber grosses Theater.
Weitere Aufführung: Heute Samstag, 28. November, 20 Uhr, Theater Chur.