© Aargauer Zeitung / MLZ; 02.12.2005 Kultur Zeitung
Aberwitzige Sprache
Theater Tuchlaube Matterhorn Produktion zeigt eine gelungene Hommage an den Sprachschöpfer Alfred Wälchli.
Benno Wirz
Man muss sie gehört haben, Alfred Wälchlis Sprache. Die Texte des vor zwei Jahren verstorbenen Zofinger Sprachschöpfers dringen ans Ohr mit einem nur selten vernommenen Singsang, begleitet von Zischeln und Ächzen, gedrängt von leicht hämmernden Schlägen eines vorantreibenden Taktes. «Graugruetztens n wolkeband, chaosmeers n brandungsstrand . . .», skandiert der Eingangschor. Lautlichkeit trifft sich da mit Rhythmus, Mundart mit Schriftsprache, Mathematik mit Poesie. Das, was gesagt wird, was erklingt und verhallt, lässt sich fast verstehen. Ganz fass-bar ist es aber nicht. Dies macht Wälchlis Stück «Die Romanza der Eluvies», das dritte eines auf fünf Teile angelegten Gesamtkunstwerkes, zu einem unerhörten Ereignis der Sprache, zu einem wirkmächtigen Drama ihrer archaisch-anarchischen Schöpfungskraft.
Das neueste Werk von Matterhorn Produktion mit Titel «Die Versuchung, die Romanza der Eluvies von Alfred Wälchli zu spielen» gibt nicht nur Wälchlis Sprache eine Bühne. Die Regie von Ursina Greuel nimmt den in den urtümlichen Wort- und Lautbildungen gelegten inhaltlichen Faden auf und verhilft mit einer ansteckend lustvollen, nie gekünstelt wirkenden Inszenierung all dem zu Verständlichkeit und Konkretheit, was sprachlich eher im Dunkeln bleibt. Die sieben Akteure (Stina Durrer, Sabina Frey, Franziska von Fischer, Thomas U. Hostettler, Krishan Krone, Markus Mathis, Oliver Meier) eröffnen vor den Augen des Publikums eine märchenhafte Szenerie (Ausstattung: Catharina Strebel), ein klassisches Drama, bald Komödie, bald Tragödie. Gekonnt vermeidet ihr Spiel alle Schwere, die Wälchlis literarischen Komplex belastet, indem er die Meisterwerke der abendländischen Kultur anklingen lässt.
Luftig leicht lastet das gleichsam mythische Schicksal, das die Szene des Geschehens bedroht: die unfreundliche Übernahme des Hotels «Zum grossen Hunger und Durst» durch den Zeitungsmenschen Cerberus. Erfrischend aberwitzig wirken die Gegenmassnahmen, die das Hotelpersonal im Verbund mit der Directrice startet: die Scheinheirat eines eiligst herbeigeschafften Königspaars. Am Schluss liegen die Objekte der Intrige, die Reporterin Eluvies und der Komponist Oscen, sich küssend in den Armen. Die Komödie hat sich vollzogen. Das Schicksal aber hat das letzte Wort. Obwohl die Verstrickungen einen glücklichen Ausgang nehmen, bricht das Verhängnis über die Szene herein: Eine Bilderlawine stürzt das Hotel mitsamt Personal und Umgebung in den Abgrund und bereitet dem Spiel ein Ende.
Gerne lässt man sich verführen vom sprachlichen Kosmos des «Homers von Zofingen». Gerne hätte man es noch länger beschaut, dieses aberwitzige Spiel von Schicksal, Kabale und Liebe, das sein Ebenbild gefunden hat in den kruden, an Terry Gilliams Monty Python-Comics erinnernden Videoeinspielungen (Michael Spahr). Vielleicht beschleicht einen beim beschwingten Verlassen des Theaters nur eine winzige, lästige Frage: Wird das, was das Ohr vernommen und genossen hat, nicht auf unangenehme Weise bedrängt, ja aufgehoben durch die Wirklichkeit, die das Auge erblickte? Seit mehr als einem Jahrhundert geistert ein Gedanke durch das Denken des Abendlandes, wonach Sprache nicht nur abbildet, was wirklich ist, sondern selbst eine Realität erschafft. Alfred Wälchli muss dieser Gedanke wohl eine Art Elixier für sein Schaffen gewesen sein.