© Neue Zürcher Zeitung; 05.02.2007; Nummer 29; Seite 32
Zürcher Kultur

Crevettencocktail an Sibelius-Kantate
Bissfest: Beat Sterchis Bühnenabendessen «Nach Addis Abeba»

Nach der Uraufführung von Beat Sterchis Text «Das Matterhorn ist schön» (2001) formierte sich um die Regisseurin Ursina Greuel ein Kernensemble mit dem Namen «Matterhorn Produktion». Dieses hat seitdem mit grossem Erfolg seinen Umgang mit Sterchis Sprache auf der Bühne perfektioniert. Im Theater der Roten Fabrik brachte Greuel den Text «Nach Addis Abeba» zur Zürcher Premiere - ein bemerkenswertes Stück konkrete Poesie.
Die Situation ist bekannt. Bei geschmackvollen Gastgebern ist ein ebensolches Abendessen zu bestehen, im Beisein von fremden Menschen, die man küssen muss - und das bereits in den ersten Minuten. Und dann, bitte schön, wie schlägt man die weiteren Stunden tot? Indem man sich unterhält, indem man redet, natürlich. Denn wenn man das unterlässt, dann könnte geschehen, was sich auf der Bühne von Catharina Strebel, in der Regie von Ursina Greuel, wie folgt darstellt: Auf einem gigantischen Sofa, auf dem eine Abendgesellschaft wie eine Kolonie frisch gesetzter Gartenzwerge wirkt, kippen diese - auf dem Höhepunkt einer sinnlosen Sofa-Begeisterung zuhanden der Gastgeber («Ihr Sofa ist neu! Ihr Sofa ist schön!») - mählich vom Sitz über die Kante auf den Fussboden. Und dort werden sie ereilt vom nächsten Zwang, einer kollektiven Teppich-Hysterie: «Ihr Teppich ist neu! Ihr Teppich ist schön!»
Beat Sterchi, der Berner Sprachmusiker, sagt von sich, dass er Figuren erfindet, «die auf dem Rücken der Sprache reiten». Die szenisch stilsichere Regisseurin Ursina Greuel und ihr hochmotiviertes - Sterchi- und Schwitters-erfahrenes - Ensemble gehen in der Inszenierung des Textes «Nach Addis Abeba» (ein «fünfgängiges Bühnenabendessen»: Sterchi) noch einen Schritt weiter. Nicht die Figuren reiten auf der Sprache, sondern die Sprache reitet auf den Figuren!
Wie sich das bei Greuel und Co. darstellt? Die feine Gesellschaft, gewiss, sie glaubt nicht an Gott - und doch spricht sie fortwährend über ihn. Das Wort «Crevettencocktail», mit dem die Gastgeber (Kristian Krone, Sibylle Burkart) ihre Gäste ködern, zerfällt im Mund der selbstgefälligen Möchtegerns in einzelne, unverdauliche Silben; es bedeutet nichts als die sprachliche Modeschau eines angelesenen, ambitionierten Gastro-Ticks. Gast Konstanze (Agnes Lampkin, bravourös) wiederum ist vom Sehnsuchtswort «Addis Abeba» besessen wie von einem hexischen Fluch, der sie zwingt, in eine freie Improvisation auszubrechen, minutenlang, unheilbar. Sterchis Sprache ist leere Rhetorik, purer Selbstzweck und verwendbar nur als rhythmisches Material; seine Sprache ist vom selben Nutzwert wie das riesenhafte Sofa oder der monumentale Kandelaber (aus Silberlöffeln und Alltagsschrott), aus welchen die Perkussionistin Margrit Rieben verführerische Töne schlägt und zauberische Geräusche.
Sibelius, immer wieder fällt der Name; es ist der Lieblingskomponist des Gastgebers, doch hier nur zu verstehen als rhetorisches Beeindruckungs-Instrument. Ursina Greuel aber hat sich an ihm festgebissen. Sie lässt ihre sieben Figuren (Franziska von Fischer, Sabina Frey, Markus Mathis, Michael Wolf, Burkart, Lampkin und Krone) aus Sterchis Sprach-Magma Sibelius-hafte Choräle und Kantaten formen; und so singen und summen die hingebungsvollen Sterchi-Sprechautomaten einmal solistisch, einmal chorisch, doch stets in einer Harmonie, die in ihrer Wirkung federleicht, doch in ihrer Bedeutung schwerwiegend ist.

Daniele Muscionico